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Eintrag Nr. 785

„Solidarität als Staatsaufgabe“

Treffen die Corona-Prognosen für den Herbst zu, verpflichtet das Grundgesetz den Bundestag dazu, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen

Ein Gastbeitrag.

„Die schon lange beklagte zunehmende Individualisierung der Gesellschaft, die mit dem Verlust milieuspezifischer Bindekräfte einhergeht, hat sich in den zurückliegenden Jahren weiter verstärkt. Die Selbstverwirklichung des Einzelnen wird „zu einem Lebensprinzip erhoben, das keine Bevormundung durch Dritte und kein Expertenwissen mehr gelten lässt“ (Uwe Volkmann). Die Fragmentierung der Parlamente ist eine weitere Folge hiervon, die sich aktuell in zunehmend ausdiversifizierten Koalitionsgebilden fortsetzt, was politischer Führung zumindest nicht zuträglich zu sein scheint.

Das klägliche Scheitern der Gesetzesvorhaben zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht im Deutschen Bundestag kann derart auch als ein weiteres und durchaus besorgniserregendes Symptom dieser Entwicklung begriffen werden. Früh als „Gewissensentscheidung“ der Abgeordneten apo­strophiert und gepaart mit der weitgehenden Aufgabe des politischen Führungsanspruchs in dieser zentralen Frage der inneren Sicherheit, bleibt am vorläufigen Ende dieses irrlichternden Weges die Herausforderung unbewältigt, den Ausweg aus der Pandemie zu gestalten. Zeitgleich wurden wichtige Elemente aus dem Infektionsschutzgesetz herausgebrochen und die gesetz­lichen Grundlagen für Schutzmaßnahmen auf einen „Basisschutz“ zurück­geworfen. Das Gesetz bietet so weniger statt mehr Rechtssicherheit für Schutzmaßnahmen der Länder – die es nach dem Willen der Bundesregierung nun auf dieser zurechtgestutzten Grundlage richten sollen.

 

Wenn es allerdings richtig ist, was zuvor von Vertretern der Bundesregierung und führenden Virologen dargelegt wurde – und wofür vieles spricht –, dass eine Herdenimmunität ohne eine höhere Impfquote tatsächlich nicht zu erreichen ist und daher mit hoher Wahrscheinlichkeit spätestens im Herbst eine neue Corona-Welle droht, deren Bekämpfung mit ähnlich hoher Wahrscheinlichkeit erneut grundrechtsbeschränkende Maßnahmen erforderlich machen könnte, ist die maßgebliche Frage nicht mehr allein, ob der Gesetzgeber eine allgemeine Impfpflicht hätte einführen dürfen. Es drängt sich vielmehr die Frage auf, ob angesichts dieses Szenarios der Gesetzgeber seine grundrechtlichen Schutzpflichten verletzt, wenn er weiterhin untätig bleibt. Das Verfassungsrecht jedenfalls hält das notwendige Instrumentarium bereit, Verfassungspflichten des Staates auch durchzusetzen – und sei es in letzter Konsequenz mithilfe des Bundesverfassungsgerichts. Die inte­grierende Kraft der Solidarität zu entfalten und sich daran zu erinnern, dass die Verfassung den Staat zur Herstellung einer gewissen „Mindestsolidarität“ anhält, könnte einen Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma weisen.

Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie

Die Eindrücke der letzten beide Jahre geben derart Anlass zur Selbstvergewisserung, indem der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes in diesem Lichte erneut betrachtet und eingeordnet wird. Das Grundgesetz geht gerade nicht von einem egoistischen und primitiven Freiheitsbegriff aus. Freiheit ist voraussetzungsvoll. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist zwar unbestreitbar auf die Autonomie des Individuums, nicht aber auf Egoismus und Selbstsucht angelegt. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie, das im Einzelfall austariert werden muss. Das Bundesverfassungsgericht hat es bereits im Jahr 1954 prägnant so formuliert: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“ Später haben die Karlsruher Richter noch etwas nachdrücklicher hinzugefügt, das Grundgesetz ziele nicht auf das „selbstherrliche Individuum“, sondern auf die „in der Gemeinschaft stehende und ihr vielfältig verpflichtete Persönlichkeit“. Auf diese Weise wurde die Autonomie des Individuums und seine Gemeinschaftsgebundenheit mit der damit notwendig einhergehenden Heteronomie verbunden. Dazu gehört die Einsicht, dass Solidarität nicht nur ein moralischer Begriff im Sinne einer „Tugendmoral“ ist, sondern auch eine im rechtlichen Sinne formale Solidarität („Pflichtmoral“) bezeichnet. Ihr Zweck ist es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten und das Gemeinwohl zu fördern.

Den Rahmen für die Aktivierung der Solidarität als Verfassungspflicht liefert das Recht. Mit seiner Hilfe wird von dem Einzelnen ein Mindestmaß an Solidarität eingefordert. Der bloße moralische Appell ist insoweit nicht das In­strument, das der Rechtsstaat zur Verfügung stellt. Nur das demokratisch zustande gekommene Recht ist geeignet, im Einzelfall „Autonomie und Heteronomie zu versöhnen“ (Martin Kriele). Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 1951 herausgestellt, dass es nicht abstrakt der Staat, sondern konkret der Gesetzgeber ist, der „verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität verpflichtet“ ist. Das gilt für das Prinzip der Solidarität in besonderem Maße.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass sich die Solidarität als Verfassungsprinzip unter be­stimmten engen Voraussetzungen zu einer Verfassungspflicht für den Gesetzgeber, in einem bestimmten Sinne tätig zu werden, verdichten kann. So ist in der Rechtslehre allgemein anerkannt, dass sich ein Rechtsprinzip in bestimmten Konstel­lationen oder als Garantie eines nicht zu unterschreitenden Mindeststandards auch zu strikt verbindlichen Regeln verfestigen kann. So wie Solidarität unbestritten Legitimation für Eingriffe und Belastungen sein kann, so kann sie auch staatliche Handlungspflichten begründen, soweit etwa spezifische Aufgaben – wie etwa die Verteilung und der Schutz öffentlicher Güter – sinnvoll nur kollektiv erfüllt werden können. Es ist dann der Staat, an den sich die entsprechenden verfassungsrechtlichen Handlungsaufträge richten.

Staatliches Freiheitsmanagement

Was bedeutet das für die Pflicht des Staates zur gesetzlichen Begründung einer allgemeinen Impfpflicht? Zugegebenermaßen ist die Lehre von den staatlichen Schutzpflichten nach wie vor dogmatisch eher unterkomplex. Die Hürden, die das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang aufstellt, sind im Hinblick auf die Funktionsgrenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu Recht hoch. Danach kann Karlsruhe die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Insoweit ist nicht zuletzt das Gesamtschutzkonzept in den Blick zu nehmen.

Mit Blick allein auf diese hohen Hürden im verfassungsrechtlichen Maßstab einer verfassungsunmittelbaren „staatlichen Pflicht zur Impfpflicht“ eine Absage zu erteilen, wäre allerdings voreilig und zu kurz gegriffen. Es ist notwendig, den Blick zu weiten. In der Gesamtbetrachtung geht es nämlich nicht isoliert um den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, dem der Staat verpflichtet ist, sondern es geht gleichsam um ein staatliches Freiheitsmanagement. Denn das Infektionsschutzrecht und zumal die spezialgesetzlichen Regelungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben sich seit März 2020 kontinuierlich von einem polizei- und ordnungsrechtlichen Regelungsregime und damit Gefahrenabwehrrecht zu einem System der Risikovorsorge gewandelt. Die Frage, welche Bereiche von einem Lockdown oder anderen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in welcher Intensität betroffen sind, ist, dem Gedanken des Gesamtschutzkonzepts folgend, dem Planungsrecht deutlich näher als dem klassischen Gefahrenabwehrrecht. Dem Gesetzgeber und den auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes agierenden Landesregierungen kommt schon lange im Kern die Aufgabe der Zuordnung grundrechtlicher Freiheitsräume zu.

Konkret: In einer Ge­mengelage, in der zahlreiche Grundrechte na­hezu aller Rechtsunterworfenen (potentiell) in unterschiedlicher In­tensität und gegebenenfalls auch additiv und in großer Zahl auch deshalb massiv betroffen sind, ist eine planerische Entscheidung des Gesetzgebers geboten, die auch künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit notwendig werdende Freiheitseingriffe nicht ausblendet, sondern in die Bewertung und Abwägung einstellt.

Einklagbare Handlungspflichten

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Klimaschutzbeschluss vom 24. März 2021 angesichts der aufgrund des etablierten Maßstabs hohen verfassungsrechtlichen Hürden ausdrücklich keine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten im Hinblick auf die Bekämpfung der Folgen des Klimawandels angenommen hat. Anstatt seinen Maßstab insoweit nachzuschärfen, wozu durchaus Veranlassung bestanden hätte, ist es zu einer Verurteilung des Gesetzgebers gelangt, indem es eine neue dogmatische Figur „gefunden“ hat, nämlich den Gedanken der „Intertemporalität“ im Grundrechtsschutz und daraus abgeleitet die Pflicht des Staates zur „intertemporalen Freiheitssicherung“.

Durch diesen Kniff gelangt Karlsruhe von der grundrechtlichen Schutzpflicht und deren hohen Hürden weg hin zur klassischen Eingriffsprüfung in Freiheitsrechte und damit auf vertrauteres Terrain, um sodann über den Gedanken der intertemporalen Freiheitssicherung – letztlich doch wieder – staatliche Handlungspflichten zu begründen. Wenn diese dogmatische Figur trotz ihrer Pirouetten ihre Berechtigung hat, dann jedenfalls im Planungsrecht der Pandemiebekämpfung. Hier drängt sich der Gedanke der Intertemporalität gleichsam im Zeitraffer geradezu auf und kann verfassungsrechtlich fruchtbar gemacht werden.

In der F.A.Z. ist von Olaf Rank bereits sachkundig und überzeugend in einer ökonomischen Analyse des Rechts beschrieben worden, dass sich die nach wie vor niedrige Impfquote als eine Form von Marktversagen darstellt und der Einzelne keineswegs übermäßig belastet würde, wenn ihm im Wege einer allgemeinen Impfpflicht ein letztlich geringer Eingriff in seine körperliche Integrität zugemutet würde (F.A.Z. vom 11.2.2022). Wenn eine allgemeine Impfpflicht der entscheidende Pfeiler eines wirksamen und effektiven Gesamtschutzkonzepts ist, dann ist sie auch im verfassungsrechtlichen Sinne unverzichtbar. Der Staat bliebe sonst erheblich hinter seinem Schutzziel zurück und nähme zugleich pflichtwidrig in Kauf, in der Zukunft erneut erhebliche Freiheitsbeschränkungen vornehmen zu müssen. Über die Rechtsinstitute der Schutzpflichten und der Intertemporalität von Freiheitseingriffen lassen sich im Falle der allgemeinen Impfpflicht unter den genannten tatsächlichen Prämissen auch einklagbare Handlungspflichten des Staates zur Herstellung von Solidarität ableiten.“